Fünf Jahre EU-Erweiterung: Wo liegt Osteuropa?

Für die Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise gibt es noch kein europäisches Rezept. Die EU-Staaten trifft die Krise nicht in gleichem Maße, und nicht nur Osteuropa ist besonders betroffen. Auch in Westeuropa gibt es Länder, z.B. Irland, die tiefer in der Krise stecken als andere.

Fünf Jahre nach der EU-Erweiterung 2004 und 20 Jahre nach dem politischen Umbruch in Mittel- und Osteuropa gäbe es eigentlich Grund genug zum Feiern. Stattdessen ist von der Gefahr einer erneuten Teilung Europas die Rede. Als nach dem außerplanmäßigen EU-Gipfel Anfang März Schlagzeilen wie „Absage an einen Soli-Zuschlag für Osteuropa“ die Runde machten, waren viele Tschechen empört. Die Tschechische Republik gehöre schließlich nicht zu Osteuropa.

Es geht dabei nicht nur um die Debatte über die geographische Lage einzelner Länder. Im Vordergrund steht vielmehr das Bedürfnis, eine politische Teilung Europas zu überwinden. 20 Jahre nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ ist Europa in den Köpfen vieler noch nicht zusammen gewachsen. Fünf Jahre nach der EU-Osterweiterung hat das Wort „Ost“ oft einen negativen Beigeschmack, sowohl in den „alten“ als auch in den „neuen“ Mitgliedstaaten.

Die Stimme Europas

Erst recht für die tschechische Regierung, die für die EU-Ratspräsidentschaft das Motto „Europa ohne Barrieren“ sowie folgende Slogans gewählt hat: „Wir versüßen Europa“ und „Wir werden Europa in Einklang bringen“. Von Harmonie kann innerhalb der EU momentan allerdings nicht wirklich die Rede sein. Die französisch-tschechischen Beziehungen klingen seit der Übergabe der EU-Ratspräsidentschaft verstimmt. Die Finanzmärkte stimmen gar nicht mehr. Die EU ist in vielen Politikbereichen weit davon entfernt, mit einer Stimme zu sprechen. Für Aufregung sorgte in Tschechien die Kritik Sarkozys, dass die französische Automobilindustrie Autos für den französischen Markt im Ausland produziere und dadurch Arbeitsplätze ins Ausland verlagere. Tschechische Medien und Politiker interpretierten diese Kritik als Forderung Sarkozys, Peugeot und Citroen sollten die Produktion in Tschechien einstellen.

Antworten auf die Krise

Für die Bewältigung der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise gibt es weder ein globales noch ein europäisches Rezept. Auf europäischer Ebene sind koordinierte Maßnahmen im Interesse aller EU-Mitglieder unabdingbar. Eine europäische Antwort muss dabei berücksichtigen, dass die einzelnen Mitgliedstaaten nicht in gleichem Maße von der Krise betroffen und die Gründe dafür sehr verschieden sind. Es wäre aber zu einfach, in diesem Kontext von „West“ und „Ost“, von „alten“ und „neuen“ Mitgliedstaaten zu sprechen. Auch in Westeuropa gibt es Länder, die die Krise stärker trifft als andere (z.B. Irland). Unter den 2004 beigetretenen EU-Mitgliedern gibt es Staaten, die derzeit aufgrund der jahrelang versäumten Reformen kurz vor dem Bankrott stehen (z.B. Ungarn) und andere, die die Krise aufgrund der starken Abhängigkeit von ausländischen Investitionen und Exporten zu spüren bekommen (z.B. Tschechien).

Wirtschaftliche Erfolge der EU-Erweiterung

Während der Konferenz „EU-Erweiterung – Fünf Jahre danach“, die am 2. März im Rahmen der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft in Prag stattfand, erwähnte der tschechische Premier Mirek Topolánek, dass die 27 Mitgliedstaaten dieselben Werte und Ziele, aber nicht unbedingt dieselben Befürchtungen teilen. Er betonte, dass die Stärkung des europäischen Binnenmarktes die größte Herausforderung für die EU darstelle. Kritisiert wird von der tschechischen Regierung, dass nicht in allen Bereichen der vier Freiheiten der EU für alle EU-Mitglieder die gleichen Bedingungen gelten (Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit). Die ODS (Demokratische Bürgerpartei) warnt als stärkste Regierungspartei vor nationalem Protektionismus: Sie sieht in der Liberalisierung bzw. Deregulierung des europäischen Binnenmarktes die einzige Lösung, die EU wirtschaftlich zu stärken. Im Rahmen der Konferenz stellte die tschechische Regierung außerdem einen Bericht zu den wirtschaftlichen Auswirkungen und Herausforderungen der EU-Erweiterung vor, der von der Europäischen Kommission ausgearbeitet wurde. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass sowohl die „alten“ als auch „neuen“ Mitgliedstaaten von der Erweiterung wirtschaftlich profitierten und profitieren. In Krisenzeiten ist das keine unwichtige Nachricht.

Protektionismus oder Liberalisierung?

Die Gegenüberstellung von Protektionismus und Liberalisierung ist allerdings nicht die richtige Diskussion bei der Suche nach Antworten auf die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise. Weder protektionistische Maßnahmen noch die Liberalisierung des europäischen Binnenmarktes werden die Probleme lösen, mit denen die EU derzeit konfrontiert wird. Es geht vielmehr darum, wie die EU die Rahmenbedingungen für einen Binnenmarkt schaffen kann, der die Prinzipien der Ausgewogenheit, Fairness, Angemessenheit sowie Nachhaltigkeit berücksichtigt und umsetzt. Außerdem müssen sich die EU-Mitglieder darüber verständigen, wie in Krisenzeiten den besonders betroffenen Mitgliedstaaten geholfen werden kann. Das Vorurteil, dass die „neuen“ Mitgliedstaaten dem „Westen“ auf der Tasche liegen, ist in diesem Zusammenhang genauso gefährlich wie das Vorurteil, dass sich die „alten“ Mitgliedstaaten unsolidarisch verhalten.

Europäische Identität und Solidarität

Dieselben Stimmen, die vor einigen Monaten warnten, die EU bedrohe die nationale Souveränität der einzelnen Mitgliedstaaten, fordern heute eine konsistente, kohärente und solidarische EU. Solidarität ist aber ein Wert, den man nicht einfach voraussetzen oder einfordern kann. Ohne eine Vertiefung der europäischen Integration wird das Gefühl, dass man füreinander verantwortlich ist, nicht entstehen. Nur durch die Entwicklung einer europäischen Identität, die die emotional geladenen Kategorien „West“ und „Ost“ oder „alt“ und „neu“ überwindet, wird es in Zukunft möglich sein, unterschiedliche Befürchtungen zu erkennen und gemeinsame Strategien zur Bewältigung von Krisen zu formulieren. Innerhalb der EU fehlt es aber derzeit an Vorstellungskraft, Inspiration und Gestaltungswille, es fehlt die Begeisterung und Leidenschaft für das europäische Projekt. Von den Hoffnungen des Jahres 1989 ist sowohl im „Westen“ als auch im „Osten“ wenig geblieben. 20 Jahre nach den friedlichen Revolutionen droht sich das Unvermögen vieler Politiker, Erklärungen und Lösungsansätze in der Krise aufzuzeigen, negativ auf die politische Landschaft und Kultur in vielen Mitgliedstaaten auszuwirken.

Vielleicht finden die Europäer wieder zueinander und zu sich, wenn Barack Obama Anfang April während des EU-USA-Gipfels in Prag den begeisterten „Nicht-Osteuropäern“ zurufen wird: „Potřebujeme Evropu!“ (Wir brauchen Europa).